Mittwoch, Juli 14, 2004
Jungle World - Joker für Russland
Kaum behindert durch staatliche Verfolgung, nimmt in Russland die rechtsextreme Gewalt zu.
Auftragsmorde in Politik und Business haben in Russland ebenso wenig Seltenheitswert wie rassistische Übergriffe mit Todesfolge. Erst am Freitag wurde in Moskau der Chefredakteur der russischen Ausgabe von Forbes auf offener Straße niedergeschossen. Menschen mit dunklem Teint sind die Zielscheibe einer wachsenden Anzahl von organisierten Skins oder rechten Schlägertrupps. Wer Glück hat, kommt mit Verletzungen davon.
Der Mord an Nikolaj Michailowitsch Girenko Mitte Juni in St. Petersburg erscheint so als ein fast alltägliches Ereignis. Doch gibt es eine Besonderheit, denn alles deutet auf eine gezielte Racheaktion aus dem rechtsextremen Spektrum hin. Der Afrikaexperte und aktive Antifaschist Girenko wurde durch seine Wohnungstür hindurch erschossen, der Täter konnte ungehindert entkommen. Noch in der Woche zuvor hatte Girenko von Drohanrufen aus dem Umkreis der Nowgoroder Filiale der rechtsextremen paramilitärischen Russischen Nationalen Einheit (RNE) berichtet.
In Nowgorod geht derzeit ein Gerichtsprozess gegen mehrere Mitglieder der RNE seinem Ende entgegen, in dem Girenko als Sachverständiger der Anklage hätte auftreten sollen. Es ist nur einer von zahlreichen ähnlichen Fällen, in denen er durch die Vermittlung hervorragender Sachkenntnisse versucht hatte, die zunehmende Gewalt von rechts einzudämmen.
Er war einer der ersten, die Mitte der achtziger Jahre begannen, sich mit diesem Thema intensiv auseinanderzusetzen. Entgegen der geläufigen Annahme, die Sowjetunion habe durch ihre antifaschistische Grundhaltung rechten Tendenzen keinen Raum für Entwicklung gelassen, entstanden bereits in den fünfziger und sechziger Jahren informelle Gruppen, die in Flugblättern dazu aufriefen, gegen Milizionäre, Kommunisten und Komsomolzen vorzugehen. Dabei gingen nationalistische Parolen meist einher mit Antisemitismus.
Eine radikal antiwestliche Haltung in Verbindung mit Militarismus und extremem russischen Nationalismus war schließlich auch in den höchsten Parteiorganen und im Komsomol anzutreffen. Lange Jahre existierte eine Art rechte Ideologieschule mit der Eigenbezeichnung »Russische Partei«, die praktisch die Vorläuferin der während der Perestroika gegründeten nationalistischen Bewegungen war. Angesichts der offiziellen Propaganda, wonach der sowjetische Staatsapparat als links galt, nimmt es nicht Wunder, dass Proteste gegen den Apparat aus linker Perspektive in der Endphase der Sowjetunion mangels politischer Basis wenig Chancen auf Erfolg besaßen. Die Rechte dagegen konnte mit der Unterstützung aus offiziellen Strukturen wie beispielsweise dem Schriftstellerverband rechnen und verfügte somit über nicht unerhebliche Ressourcen, die der Linken immer fehlten.
Die RNE, die nach wie vor zu den bedeutendsten rechtsextremen Organisationen gehört, ist 1990 aus der nationalpatriotischen Front Pamjat hervorgegangen, hat sich jedoch seitdem etliche Male gespalten. Sie unterhält in vielen Städten Ausbildungszentren für ihren Kampfapparat, denen formal der Status von Sportklubs oder Ausbildungsstätten zur Vorbereitung für den Armeedienst zukommt. Ideologisch sieht die RNE ihr Vorbild im deutschen Nationalsozialismus, den sie stilistisch mit einer slawischen Variante des Hakenkreuzes kopiert.
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