Donnerstag, September 08, 2005

junge welt vom 08.09.2005 - Kolonie des Schreckens

Die »Colonia Dignidad« wird aufgelöst. 44 Jahre deutscher Terror im Süden Chiles gehen zu Ende Unterwegs im Süden Chiles, kann es passieren, daß man auf einer verlassenen Schotterpiste mitten in der malerischen Bergwelt der Anden auf ein Werbeschild stößt, auf dem »Tante Hildes Apfelstrudel« beworben wird. Was als absurde Kuriosität oder schlechter Scherz erscheinen mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als vergleichsweise harmloses Symptom einer seit Beginn des 20. Jahrhunderts starken deutschen Präsenz in dem südamerikanischen Land. Neben Südbrasilien und Argentinien war Chile der Hauptanlaufpunkt für deutsche Auswanderer in Südamerika. Dort wurden sie mit offenen Armen empfangen und profitierten von der gezielten Förderung europäischer Einwanderung durch die damaligen Regierungen, die, ausgehend von den derzeit weitverbreiteten pseudowissenschaftlichen Rassentheorien, anstrebten, die heterogene Bevölkerung ihrer Staaten »einzuweißen«. Auch die klimatischen Bedingungen, die den mitteleuropäischen sehr ähnlich sind, mögen dazu beigetragen haben, daß sich Deutsche besonders im Süden Chiles angesiedelt haben. Aus ihrer Heimat brachten die Deutschen ab den zwanziger Jahren neben den bei antisemitischen und rassistischen Bevölkerungspolitikern Chiles sehr beliebten »deutschen Tugenden« auch verstärkt nationalsozialistisches Gedankengut in die Gesellschaft des Landes ein. Die NSDAP/AO (»Auslandsorganisation«) hatte hier eines ihrer wichtigsten Zentren in Lateinamerika, und ab 1933 sympathisierte ein großer Teil des chilenischen Bürgertums mit Nazideutschland. Nach 1945 war Chile eines der Hauptziele für Nazigrößen, deren Flucht von der ODESSA (Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen) organisiert wurde. In den Nachkriegsjahrzehnten entstand in Lateinamerika ein Netzwerk, in dem geflohene Nazis wie Klaus Barbie (der »Schlächter von Lyon«), Josef Mengele, Adolf Eichmann und viele andere die Kontinuität der NS-faschistischen Bewegung sicherstellten, wirtschaftliche Macht aufbauten und in den sechziger und siebziger Jahren enge Kontakte zu den ihnen ideologisch nahestehenden Militärdiktaturen der Region knüpfen konnten. Chile war Dreh- und Angelpunkt dieser Aktivitäten, und es ist wohl kein Zufall, daß die zentralen Feierlichkeiten anläßlich des 100. Geburtstags von Adolf Hitler am 20. April 1989 ebendort stattfanden. In enger Verbindung zum lateinamerikanischem Nazinetzwerk stand auch die sogenannte Colonia Dignidad (»Kolonie Würde«), ein »Mustergut« etwa 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile, auf dem eine christlich-fundamentalistische Sektengemeinschaft aus Deutschland ab 1961 ein brutales Lagerregime etablierte, in dem totale Überwachung, Kindesmißbrauch, Folterungen, psychische Abhängigkeit, Sklavenarbeit und Mord zum Alltag gehörten.

Keine Kommentare: