Mittwoch, September 22, 2004

taz 22.9.04 Verführt sie doch!

Ob in Sachsen, Brandenburg oder sonst wo: Neonazis sind Überzeugungstäter - Schmuddelkinder der Nation. Ihren Erfolg verhindert nur, wer ihren Anhängern das zivile Leben schmackhaft macht Als die amerikanischen und britischen Besatzer nach der Kapitulation Nazideutschlands sich anschauten, mit welchen Menschen sie es zu tun haben, formulierte ein Beobachter folgende Alternative: Man kann sie alle erschießen - oder gewinnen. Es muss ein frustrierender Sieg gewesen sein, denn die Deutschen, so war fühlbar, nahmen alles in allem Hitler und den Seinen lediglich übel, dass er sie in eine Niederlage geführt hat. Ein verpestetes Land, wie auch Peter Weiss in seiner "Ästhetik des Widerstands" beschrieb: In dessen dritten Teil wird ja geschildert, wie einsam es Lotte Bischoff ging, die, ausgerüstet mit kommunistischem Auftrag, aus Stockholm heimlich als Kurierin nach Hamburg reiste, um dem antinazistischen Widerstand zu helfen. Allein: Verzweifelnderweise gab es keinen. Schließlich entschied man sich doch, wie man heute weiß erfolgreich, nicht für die Exekution, sondern für die therapeutische Form der Umerziehung: durch den "zwanglosen Zwang zum besseren Leben" - woraus das erwuchs, wofür als Chiffre das Wort Wirtschaftswunder steht. Abschied vom Pathos - und Hinwendung zum Profanen, kein Hass auf die Verhältnisse, dafür Möglichkeiten des demokratischen Ausprobierens, Erfahrungen zu sammeln in nichtsoldatischen Lebensformen. Verführung zum zivilen Leben statt Befehl: Das war das Rezept gegen völkische Besessenheit, nicht in der DDR, wenigstens aber im Westen und Westberlin.

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