Mittwoch, September 08, 2004

Jungle World - Zu jung für diese Stadt

Chemnitz schrumpft. Unter den Verbliebenen gewinnen konservative und rechtsextreme Kräfte an Einfluss. (...) Chemnitz gleicht vielerorts einer Geisterstadt, 42 000 Wohnungen stehen leer. Die aktuelle Studie »Deutschland 2020« prognostiziert einen weiteren Bevölkerungsrückgang um 25 Prozent bis zum Jahr 2020. »Wir müssen uns darauf einrichten, statt in einer Stadt mit 300 000 Einwohnern in einer Stadt mit 200 000 zu leben«, meint Dominik Zschocke, ein Vertreter der Grünen im Chemnitzer Stadtrat. Dort sitzen seit der Kommunalwahl im Juni auch fünf Republikaner. Schuld an der sozialen Misere seien Fremde, Obdachlose und die Zahlungen des Staates ans Ausland, lauteten die Thesen der Partei im Wahlkampf, mit denen sie zehn Prozent der Stimmen gewinnen konnte. Ihr Spitzenergebnis erzielten die Republikaner im Stadtteil Ebersdorf, wo sich das zentrale Asylbewerberheim für Sachsen befindet. »Die gehen nicht arbeiten und haben viel teurere Klamotten als wir«, sagt eine Anwohnerin über die Flüchtlinge. »Ein Fall aus meiner Arbeit ist so typisch für Chemnitz«, erzählt Jens Farag. Als die Iranische Botschaft seinem iranischen Mandanten eine Ledigkeitsbescheinigung mit der Begründung verweigerte, seine deutsche Ehefrau sei keine Muslimin, habe die Standesbeamtin zu der Frau gesagt: »Warum werden Sie dann nicht Muslimin, die Viertelstunde Zeit werden Sie wohl haben?« Für Farag steht fest: »Die Mitarbeiter in diesen Behörden sind oft schlichtweg rassistisch.« Rassistische Übergriffe werden nur in drastischen Fällen bekannt. Im September 2002 attackierten mindestens drei Männer den aus Kamerun stammenden Fußballer Cesar M’boma auf dem Stadtfest, schlugen ihn und beschimpften ihn mit ausländerfeindlichen Parolen. Ein Vierteljahr später verübten vier Männer einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim im Stadtteil Kappel. Im Stadtteil Sonnenberg wurden während der Fußballeuropameisterschaft zwei Studenten krankenhausreif geprügelt, weil sie einer Gruppe Sonnenberger »Holland, Holland!« entgegengerufen hatten. Einer der Studenten musste den schwarz-rot-goldenen Schal eines Angreifers küssen. Unweit vom Ort dieses Übergriffs betreibt ein Rechter ein Internetcafé, in dem täglich Skinheads verkehren. Weiter die Straße hoch befindet sich die Stammkneipe der Republikaner. Die NPD plakatierte hier vor den Landtagswahlen besonders gründlich. »Grenzen dicht für Lohndrücker«, »Quittung für Hartz IV« oder »Wahltag ist Zahltag« stand auf den Plakaten, die jedoch keine drei Wochen hielten. Viele wurden heruntergerissen oder mit Graffiti besprüht, manche mit Zetteln beklebt: »Die Rattenfänger von heute«. Ganz oben auf dem Sonnenberg steht das Humboldt-Gymnasium, wo die Aktivitäten der »pennalen Burschenschaft Theodor Körner« ihren Anfang nahmen. Dort pflegt man Kontakte zur Jungen Landsmannschaft Ostpreußen und liest Publikationen rechtsintellektueller Institutionen des Thule-Seminars und des Instituts für Staatspolitik. Aufgebaut wurde die Burschenschaft mit der Unterstützung alter Herren wie dem Republikaner Martin Kohlmann und dem Jenaer CDU-Mitglied Mirko Kühnel.

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