Mittwoch, Dezember 07, 2005
Jungle World ··· 49/2005 Feuilleton ··· Opa, du warst ja doch dabei
Der Sozialpsychologe Harald Welzer erklärt, wie im Nationalsozialismus aus normalen Menschen Massenmörder wurden
Die spektakulären Kriegsverbrecherprozesse der Nachkriegszeit – die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, der Eichmann-Prozess in Jerusalem und der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main – haben die Sichtweise nahe gelegt, NS-Verbrecher als Einzeltäter zu betrachten. Denn der Rechtsstaat kennt keine Kollektivschuld, sondern nur die Verantwortung von Individuen. Zur Singularisierung kam die Dämonisierung (»Hitlerismus«), beides diente den normalen Bürgern als Entlastung.
Erst Raul Hilbergs Standardwerk »Die Vernichtung der europäischen Juden« analysierte die Judenvernichtung als komplexen, bürokratisierten und administrativen Vorgang, an dem eine unübersehbare Vielzahl an Tätern beteiligt war, die ihren Beitrag zum größten Massenmord der Geschichte vom Schreibtisch aus leisteten. Doch »Die Vernichtung der europäischen Juden«, 1961 in Chicago veröffentlicht, fand bis 1982 keinen Übersetzer in Deutschland. Deswegen konnte das Werk, das den zentralen Tätertypus neu definierte, hierzulande erst in den achtziger Jahren von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.
Es dauerte noch einmal zehn Jahre – viele Täter waren mittlerweile ohne juristisches Nachspiel verstorben –, bis das alte und bequeme Bild vom allein schuldigen hohen NS-Funktionär endgültig verabschiedet werden konnte. Die Wehrmachtsausstellung, von 1995 bis 1999 in 33 deutschen Städten vertreten, räumte mit dem Mythos der »sauberen Wehrmacht« auf und machte die reibungslose Zusammenarbeit von Militär und Einsatzkommandos deutlich. Fast gleichzeitig erschien Daniel Goldhagens »Hitlers willige Vollstrecker«, Ende der neunziger Jahre dann auch »Das Dritte Reich und die Juden« von Saul Friedländer sowie »Ganz normale Männer – Das Reserve-Bataillon 101 und die ›Endlösung‹ in Polen« von Christopher R. Browning.
Auf der Studie von Browning baut der Essener Sozialpsychologe Harald Welzer mit seinem neuen Buch »Täter – wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden« auf. Schon Browning hatte die Frage, ob es sich bei den Mitgliedern des Reserve-Bataillons 101 um besonders gewaltbereite Männer gehandelt habe, auf der Grundlage von soziodemografischen Studien mit »Nein« beantwortet. Das Bataillon, das sich aus »normalen Familienvätern« rekrutierte, war für den Tod von über 80 000 Menschen im polnischen Distrikt Lublin verantwortlich. Obwohl es ihnen ausdrücklich freigestellt worden war, an den Erschießungen teilzunehmen, verzichteten von 500 Männern nur wenige auf diese Form der »Arbeitsausübung«.
Auch Welzer bestreitet, dass die Persönlichkeitsprofile von NS-Tätern irgendetwas Auffälliges aufweisen. Er stützt sich auf psychologische Tests, die mit Kriegsverbrechern durchgeführt und nach ihrer Auswertung nicht verbreitet wurden, weil die aus ihnen gewonnene Schlussfolgerung zu deprimierend war. Die erstellten Charakterprofile unterschieden sich kaum von solchen der Normalbevölkerung. Einzig Rudolf Hess wies psychopathologische Züge auf.
Über einige bekannte sozialwissenschaftliche Experimente zum Thema »Bereitschaft zum Gehorsam« kommt Welzer zu seiner Grundannahme: Es bedarf keines großen Aufwandes, um jemanden zum Massenmörder zu machen. Dabei grenzt er sich ab von allgemein-anthropologischen Nullaussagen (»Gewaltbereitschaft liegt in der Natur des Menschen«), die nur archaische Erbschaften postulieren. »Menschen gibt es nur im Plural«, behauptet dagegen der Autor, beschreibt die kollektiven normativen Veränderungen in der Orientierung der Deutschen nach 1933 und spricht von einer »nationalsozialistischen Moral«. Überzeugend weist er nach, wie viele Entscheidungsträger tatsächlich vom Sinn und der Relevanz ihres Tuns überzeugt waren, wobei jeder gemeint ist, der direkt (mit dem Gewehr) oder indirekt (indem er ein abgesperrtes Arreal errichtete oder bewachte) an Erschießungen mitwirkte.
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